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Indien für Fortgeschrittene

„Ich habe viel fürs Leben gelernt“
Indien für Fortgeschrittene

Zwei Jahre lang betreut Klaus Nusser den Aufbau einer Schreinerei in Indien. Er fertigt Möbel für Milliardäre und lebt unter den Ärmsten, verzweifelt manchmal und rappelt sich doch immer wieder auf. BM-Redakteurin Natalie Ruppricht

„Meine erste Wohnung lag in einem Slum“, erzählt Klaus Nusser bei seinem Besuch in der BM-Redaktion, „direkt neben einer öffentlichen Toilette. Der Gestank war fürchterlich! Bei 40 °C im Schatten hatte ich weder Klimaanlage noch Dusche.“ Im September 2013 war der junge Deutsche in die indische Stadt Pune aufgebrochen. Fast zwei Jahre später, im Juni 2015, kehrt er zurück. Seine Bilanz fällt nicht nur positiv aus. Trotzdem bereut er das Abenteuer nicht. „Die Erfahrung ist mehr wert als alles andere. Und beruflich hat es mich auch nach vorne gebracht.“

Der heute 27-Jährige hat 2008 die Schreinerlehre beendet und sich dann zum geprüften Gestalter und Designer im Handwerk fortgebildet. Nach zwei Gesellenjahren in einem Zwei-Mann-Betrieb besucht er die Fachschule für Holztechnik in Stuttgart, wo er den Techniker macht und 2013 den Meisterbrief erwirbt. „Ich komme nicht aus einer klassischen Handwerkerfamilie. Meine Arbeit habe ich gerne gemacht – aber es war nicht das, wo ich auf lange Sicht hin wollte.“ Wohin er hingegen schon immer mal wollte: ins Ausland. Weil ihn auf der Technikerschule sowohl die Software als auch das Unternehmen Pytha faszinieren, fragt er dort einfach mal an: Ob sie vielleicht Kontakt zu einer Firma in Dubai, den USA, Südafrika oder Australien herstellen können? Und wirklich: Kontakt ins Ausland, ja. Es ist zwar Indien, aber was soll’s?
Die Aufgabe
Für Utturkar’s Wood Culture soll Nusser eine neue Werkstatt planen. Das Unternehmen vertreibt in Indien Verbinder, Beschläge und anderes Möbelzubehör aus Deutschland und Italien – unter anderem von Kesseböhmer, Grass und Hailo. Weil dazu Showrooms ausgestattet werden müssen, betreibt Inhaber Tarek Utturkar, ein in Deutschland ausgebildeter Meister, nebenher eine Schreinerei. Doch Werkstatt, Büro und Lager verteilen sich weitläufig über die 5,9-Mio.-Einwohner-Stadt. Fahrtzeiten von über einer Stunde sind keine Seltenheit. Zudem steigt die Nachfrage aus dem privaten Segment stetig. „Bis dato wurden hochwertige Möbel großteils importiert“, berichtet Nusser. „Man kann sich kaum vorstellen, wie die Architekten reagierten, als sie erfuhren, dass wir in Indien produzieren. Wir waren völlig ausgelastet.“ Der Möbel- und Innenausbau soll deshalb ein zentrales Standbein im Unternehmen Utturkar werden. Bei komplizierten Aufträgen steht Nusser oft selbst an der Säge, baut zum Beispiel einen Schreibtisch für einen der reichsten Menschen der Welt und stattet sein Haus mit Küche und Bädern aus.
Die Umsetzung
Die eigentliche Aufgabe verliert er jedoch nicht aus dem Auge. Ein geeignetes Gebäude haben Tarek und sein Bruder Ashwin Utturkar, seines Zeichens Architekt, bereits gekauft. Es muss jedoch grundlegend saniert werden. Deshalb arbeitet sich Klaus zunächst in die Abläufe ein: Wo wird welches Material beschafft? Wie lange dauert es, eine Küche mit den vorhandenen Mitteln zu produzieren? Er führt eine Kostenrechnung durch und muss feststellen, dass der Break-even-Point bisher nicht erreicht wird. „Das Problem war, dass nicht in Personal investiert wurde, das selbstständig arbeiten kann und will.“ Zu der Zeit hat die Firma zehn Angestellte: zwei Designer für die Planung sowie acht angelernte Kräfte für Produktion und Montage. Allerdings wisse man nie genau, wie viele Mitarbeiter wirklich kommen: „Wird in der entfernten Verwandtschaft ein Kind geboren, tauchen die zwei Wochen nicht auf, ohne sich abzumelden“, sagt Klaus kopfschüttelnd.
Tiefpunkte
Er berechnet nun, wie groß das Plattenlager sein muss, wie viel Druckluft und welches Absaugvolumen notwendig ist und wie die Maschinen stehen sollen. „Ich habe versucht, alles umzusetzen, was ich auf der Schule gelernt habe.“ Er führt grüne T-Shirts ein, damit das Team einheitlich gekleidet ist. Aber: „Die Männer haben sie lieber zuhause getragen, weil sie ihnen zu schade für die Arbeit waren.“ Arbeitstische, Kommissionierwagen, Plattenregale und Restelager werden angefertigt und die Angestellten lernen, was aufgehoben und wo es eingelagert wird.
Das hört sich alles aufregend an, doch manchmal geht es Klaus richtig dreckig. „Ich habe die regionale Sprache nicht gesprochen und war oft auf mich allein gestellt.“ Auch die Hitze macht ihm zu schaffen. Im Dezember 2013 schwillt sein Arm an, wird blau und grün. Ein Abszess. Die Silvesternacht verbringt er mit Schmerzen im Bett und fragt sich: „Was tue ich hier eigentlich?“ Doch er will die Sache durchziehen, das Projekt zu Ende bringen. Im März wird die Werkstatt fertig sein, sagt er sich. Tatsächlich wird es aber November, bis die Umbauarbeiten beginnen.
Zweimal zieht Klaus Nusser um. Eine Weile bewohnt er das Gästezimmer eines Freundes, im Garten gibt es ein Schwimmbad. Doch die Küche steht vor Dreck, der Strom fällt täglich aus und Wasser gibt es nur zwischen 6 und 9 Uhr. Später landet er in einer Gegend Punes, in der viele sogenannte „Expats“ – also Leute, die längere Zeit für eine Firma im Ausland arbeiten – leben. Morgens nimmt er am Lach-Yoga teil. Die 100-m²-Wohnung am Park kostet 400 Euro monatlich. „Das verdienen manche Inder im Jahr.“
Das Ende
Am 20. April 2015 flattert eine E-Mail in die BM-Redaktion: „Meine Firma ist fertig.“ Der Vorher-Nachher-Vergleich beeindruckt: Während die alte Werkstatt chaotisch und dunkel ist, wirkt der Neubau freundlich und strukturiert. Hier stehen Maschinen von Holz-Her: die vertikale CNC Evolution 7405, die 6 m lange Kantenanleimmaschine 1327 Sprint und das kleinere Modell 1310. Die Utturkar-Brüder haben eine relativ neue Martin-Kreissäge mit digitaler Anzeige angeschafft und aus der alten Werkstatt die Furnierpresse von Häussermann mitgenommen. Druckluft erzeugt ein Schraubenkompressor von Kaeser, daneben gibt es sowohl eine stationäre als auch eine mobile Absaugung von Al-Ko. Die schon recht abgenutzten Elektrowerkzeuge stammen aus dem Hause Makita und auch eine alte Lamellofräse ist da.
„Besorg’ mir einen CNC-Techniker“, bittet Klaus zuletzt, denn er ist bisher der Einzige, der die CNC bedienen kann. Man setzt ihm einen Mann vor, der nicht weiß, was ein Korpus ist. „This is India. It works“, ist die Antwort auf die Frustration des Deutschen angesichts solcher Ereignisse.
Als schließlich alles fertig ist und läuft wie geplant, spielt Klaus mit dem Gedanken, ein weiteres Jahr in Indien zu bleiben. Letztendlich siegt aber das Heimweh. Am 29. Mai 2015 kommt seine letzte Mail aus Pune: „Ich sitze schon fast im Flieger. Endlich!“
Der Rückblick
Inzwischen arbeitet Klaus als Projektleiter für ein Ladenbauunternehmen in Blaubeuren – mit Fünf-Tage-Woche, Dienstwagen und gutem Gehalt. „Die Firma wollte kaum Unterlagen von mir sehen. Mein Abenteuer hat sie davon überzeugt, dass ich selbstständig und belastbar bin.“ Sein Selbstvertrauen ist gewachsen. „Ich bin definitiv stolz auf das, was ich geleistet habe.“ Die Heimat Deutschland sieht er heute mit anderen Augen: „Uns geht es wirklich gut und wir haben so viele Möglichkeiten.“ Die indischen Behörden bezeichnet er als Katastrophe: „Wir fluchen über die deutsche Bürokratie, aber es ist sehr viel wert, wenn etwas organisiert und korrekt abläuft.“ In Indien habe er zudem gelernt, Vorurteile zu überwinden. Er hat sein Englisch verbessert und kann sich jetzt auch in der regionalen Amtssprache Marathi ganz gut verständigen.
Tipps für Nachahmer
Kollegen, die wie er eine Weile im Ausland arbeiten wollen, rät Nusser: „Macht euch schlau über die Firma und ein Bild vor Ort, indem ihr vorab für ein paar Wochen hingeht.“ Wichtig ist eine private Auslandskrankenversicherung mit bestmöglicher Absicherung sowie Rücktransport im Notfall. Zudem empfiehlt er, vertraglich festzulegen, dass der Arbeitgeber Wohnung und Fahrer stellt, das Visum finanziert, einen Sprachkurs organisiert, sich um notwendige Versicherungen kümmert und Heimflüge bezahlt. Auch Austrittsklauseln sollten klar geregelt sein. Und: „Wer ins Ausland geht, sollte sich darauf einlassen. Sechs Monate kann jeder. Ich finde, man muss mindestens ein Jahr bleiben.“ Unerlässlich sei außerdem ein Netzwerk an Freunden vor Ort. „Ein persönliches Gespräch ist etwas ganz anderes als eine E-Mail.“ Bei Redaktionsschluss ist Klaus übrigens wieder in Pune: auf der Hochzeit eines guten Freundes.
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