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Interview mit Richard Sennett
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Richard Sennett ist nicht irgendwer. Er gilt als einer der meistgelesenen Gegenwartswissenschaftler. BM Autorin Christine Ax sprach mit ihm über sein neues Buch „Handwerk“. Wir dürfen das Buch auch als Ermutigung für alle diejenigen in und außerhalb des Handwerks verstehen, die „Craftmanship“ wertschätzen oder leben. Das Buch trägt maßgeblich dazu bei zu verstehen, dass Handwerk mehr ist, als die Bereitstellung von Arbeitsplätzen. Handwerk ist ein kulturelles Vermögen und eine Chance für zukunftsfähige Wirtschaftssysteme.

BM: In Ihrem Buch „Handwerk” beschreiben Sie Handwerk als zentralen Aspekt unserer Kultur. Was geschieht, wenn das Prinzip Handwerk verloren geht?

Richard Sennett: Die Menschen verlieren ihre Selbstachtung und die Fähigkeit, eine Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen.
BM: Ist Handwerk einem ständigen Niedergang unterworfen, oder können wir Handwerk als etwas beschreiben, das sich seit Jahrtausenden immer wieder neu erfunden hat?
Richard Sennett: Das ist eine gute Frage. Unsere Vorstellung von Handwerk ist tatsächlich oft veraltet und zu romantisch. Wir verbinden mit dem Begriff „Handwerker“ oder „craftsman“ oft nur die Kunsthandwerker. Aber tatsächlich hat sich Handwerk immer wieder neu erfunden. Manchmal unterstützt durch Computer. Manchmal im Rahmen neuer technischer Produktionsverfahren. Selbst im Bereich der Dienstleistungen finden wir Handwerk. Krankenpflege zum Beispiel, ist meiner Meinung nach ein Handwerk. „Craftmanship“ bedeutet für mich das Prinzip des Erlernens und Übens von Fertigkeiten, persönliches Engagement und der Wunsch und die Fähigkeit, Arbeit um ihrer selbst willen gut zu machen.
BM: Nun gibt es – anders als in den USA – in Europa nicht nur das Prinzip Handwerk sondern auch Volkswirtschaften in denen der Sektor Handwerk eine bedeutende Rolle spielt. Wir finden in Deutschland und Österreich viele Handwerksunternehmen, die alle Ihre Definition von „Craftmanship“ erfüllen.
Richard Sennett: Ja. Aber ich glaube nicht, dass wir Craftmanship nur mit diesen kleinen Unternehmen in Verbindung bringen sollten. Toyota zum Beispiel ist ein Weltkonzern. Aber die Arbeiter in der Fertigung wissen genau, was ihre Maschinen können und sie haben das Recht, das Fließband anzuhalten. Das Gleiche gilt für Nokia, das ich für ein nach handwerklichen Gesichtspunkten organisiertes Unternehmen halte. Craftmanship ist etwas, das wir nicht nur in kleinen Unternehmen finden. Ich habe mich in Japan mit Arbeitern von Toyota unterhalten. Sie stoppten das Fließband. Wir sprachen über ihre Arbeit. Andererseits haben Sie in einer Hinsicht recht: Gutes Handwerk braucht oft die persönliche Kommunikation. Dennoch sollten wir nicht davon ausgehen, dass Handwerk nur für kleine Unternehmen wichtig ist und nur dort gelebt werden kann. Wir sollten in Sachen Handwerk auch von Toyota und Nokia lernen, von ihrer Art und Weise die Arbeit in ihren Fabriken organisieren.
BM: Gibt es nicht einen natürlichen Gegensatz zwischen Handwerk und Industrie? Basiert das Prinzip „Industrie“ nicht auf Standardisierung und Kontrolle aller Prozesse? Neigen die industriellen Unternehmen nicht dazu, die ganze Wertschöpfungsketten bis hinunter zum Menschen kontrollieren und steuern zu wollen – einschließlich der Märkte und des Konsumverhaltens?
Richard Sennett: Das glaube ich nicht. Ich sehe keinen Gegensatz zwischen Handwerk und Industrie. Es wäre durchaus möglich, industrielle Arbeitsplätze so zu gestalten, dass auch die Industriearbeiter sich in ihrer Berufsbiografie stetig weiter entwickeln können. Haben sie den ersten Level an Kompetenzen erworben, dann könnten sie sich für die nächst höhere Stufe qualifizieren. Auf diese Weise ginge es immer weiter aufwärts. Für mich liegt der Schlüssel in der Planung und Gestaltung der Berufsbiografien. Ich denke, dass die Industrieunternehmen früher oder später Probleme bekommen, die ihre Produktion nicht im Gespräch mit ihren Mitarbeitern weiterentwickeln. Toyota ist in diesem Sinne ein sehr interessantes Unternehmen. Die Produktion nach dem Prinzip Craftmanship zu organisieren ist außerdem soviel effizienter als das alte fordistische System der Arbeitsteilung. Toyota hat viel höhere Produktivität als General Motors und Ford, weil die Mitarbeiter von Toyota motivierter sind. Und die sind motiviert, weil sie sich ständig weiterentwickeln können. Ich denke: Die größte Herausforderung besteht heute darin, mehr Industrieunternehmen dazu zu ermutigen den Weg von „Craftmanship“ zu gehen und von Toyotas handwerklicher Organisation von Arbeit zu lernen.
BM: Die Intellektuellen und die Wissenschaft fanden das Thema Handwerk bisher nicht sehr interessant und haben wenig darüber nachgedacht und gearbeitet. Warum?
Richard Sennett: Ja, das ist eine wunderbare Frage. Ich beschäftige mich mit diesem Aspekt in meinem Buch im Zusammenhang mit der Europäischen Entwicklung seit dem 17. Jahrhundert. Dazu erzähle ich Ihnen auch eine Geschichte. Ich unterrichte sowohl am MIT (Massachusetts Institute of Technology, Anm. d. Red.) als auch am LSE (London School of Economics and Political Science). Meine Kollegen fragten mich letztlich, was ich eigentlich tue. Und ich habe gesagt: „Ich schreibe ein Buch über Handwerk.“ Und dann habe ich zurückgefragt: „Was denken Sie, macht Ihrer Ansicht nach ein gut funktionierendes Entwicklungslabor aus?“ Einer von Ihnen – es war ein Nobelpreisträger – antwortete: „Ein gut arbeitendes Labor ist eines, in dem viele Händler bei der Arbeit sind und in dem der Meister und die Lehrlinge nicht nur in einem ständigen Austausch darüber sind, wie die Arbeit verbessert werden kann, sondern auch darüber, wie man aus Fehlern lernen kann. Fehler finden und dabei lernen, das ist gutes Handwerk und gute Wissenschaft.“ Meiner Meinung nach sind gute Wissenschaftler eigentlich Handwerker. Das Phänomen ist: Wir nennen sie nicht mehr so.
BM: Würden die Wissenschaftler es als eine Abwertung ansehen, wenn wir sie als Handwerker bezeichnen?
Richard Sennett: Nein, ganz und gar nicht. Sie würden es lieben.
BM: Da der Titel ihres Buches „Handwerk“ lautet, verrät uns die Reaktion auch viel darüber, wie das Prinzip Handwerk wahrgenommen wird. Gibt es kulturelle Unterschiede?
Richard Sennett: Ich weiß nicht genug über Deutschland. Aber es gibt interessante Unterschiede zwischen England und den USA. In den USA wird „Craftmanship“ für ein unerreichbares Ideal gehalten. Die Menschen denken, dass Craftmanship mit dem Kapitalismus nicht vereinbar ist. Die Arbeitnehmer in den USA haben heute eine entmutigte, eine fatalistische Haltung. Sie glauben nicht mehr daran, dass die Arbeitgeber ein Interesse daran haben, sie zu fördern. Das gilt nicht für Großbritannien. Den Grund hierfür sehe ich in der Labour Party, für die seit ihrer Gründung vor 130 Jahren Craftmanship ein fundamental wichtiges Prinzip ist. Das ist der Grund, warum in Großbritannien der Wunsch sehr verbreitet ist, eine gute Arbeit zu machen – eine Arbeit gut zu machen.
Die Amerikaner vermitteln oft ein falsches Bild von sich und ihrer Kultur. Sie präsentieren sich wettbewerbsorientiert und aggressiv. Ich habe mein Leben damit verbracht, amerikanische Arbeitnehmer zu interviewen und ich musste feststellen, dass sie zutiefst entmutigt sind. Sie glauben nicht mehr daran, dass sie die Möglichkeit haben werden das zu tun, was sie wirklich, wirklich tun wollen. Und sie sind voller Bedauern, dass sie sich nicht entfalten können. Und sie denken, dass die Gesellschaft sie dabei nicht unterstützt, sondern eher behindert.
BM: Sie sprechen in Ihrem Buch darüber, dass wir in Bezug auf unsere Fertigkeiten auf den Schultern von Riesen stehen. Sie betonen wie wichtig es ist, dass Craftmanship nicht etwas ist, das nur die Eliten angeht.
Richard Sennett: Mir ist sehr wichtig mit meinem Buch darauf hinzuweisen, dass die Eliten in den USA und Europa dazu neigen, auf alle Menschen herunterzusehen, die ganz normale Jobs machen. Aber das ist ganz Falsch. Denn selbst vermeintlich einfache Tätigkeiten und Berufe erlauben es uns, täglich neue Erfahrungen zu machen und dabei täglich etwas dazuzulernen. Tatsächlich hat Europa, ich denke an das Bildungswesen, den Glauben an die Fähigkeiten und Fertigkeiten die in jedem Menschen stecken verloren. Das ist ein wirkliches Problem. Es hat auch etwas mit Klassenbewusstsein zu tun. Es ist eine Form von Snobismus.
BM: Liegt es nicht auch daran, dass wir nichts mehr voneinander wissen? Wir haben keine Ahnung mehr, wie viel Fähigkeiten und Fertigkeiten viele Berufe erfordern? Das Erlernen eines Handwerks bis zur Meisterschaft erfordert gut sieben Jahre. Es ist nicht weniger zeitaufwändig als Musiker zu werden.
Richard Sennett: Das ist völlig richtig. Aber vielleicht wollen wir es auch gar nicht wissen? Denn wenn uns bewusst ist, wie viel Wissen und Können selbst ganz normale Jobs erfordern, dann könnte es zur Folge haben, dass man Menschen besser bezahlen und mit mehr Respekt behandeln muss.
BM: Am Ende ihres Buches, in der Schlussfolgerung, steht, dass „Handwerk Sozialismus braucht“. Können Sie uns das erklären?
Richard Sennett: Nun. Wir neigen dazu, besondere Fertigkeiten dem Individuum als sein persönliches Verdienst zuzuschreiben. Die Meinung, dass wir diese Fertigkeiten ganz alleine oder sogar im Wettbewerb mit anderen Menschen entwickeln können, ist weit verbreitet. Dahinter steht eine diffuse Idee von Begabung. Etwas, das auch irgendwie mit der Biologie zu tun hat. Das ist ein sehr verhängnisvoller Irrtum. Keiner der nichtmarxistischen Frühsozialisten, wie Fourrier, St. Simon oder Robert Owen hatte verstanden, dass wir nur durch Kooperation und Interaktion mit anderen Menschen unsere Fähigkeiten weiterentwickeln können. Menschen, die immer nur in ihrer eigenen kleinen Arbeitsumgebung bleiben, können ihre Fähigkeiten nicht gut weiter entwickeln. Das meine ich, wenn ich in diesem Kontext von Sozialismus spreche. Wissen Sie, ich bin kein Marxist und war niemals einer. Wohl aber ein Sozialist.
Ich möchte mit meinem Buch den Zusammenhang zwischen Kooperation und der Weiterentwicklung unserer Fähigkeiten aufzeigen. Wissen Sie, wir glauben manchmal, das soziale Leben würde nur dazu beitragen, dass wir uns irgendwie besser fühlen. Aber es sorgt darüber hinaus dafür, dass Menschen besser Denken können. Auch wenn Sie das verstehen, ist diese Sichtweise nicht sehr weit verbreitet. Das ist es, was ich mit diesem Satz sagen wollte.
BM: Vielen Dank Herr Sennett für das spannende Gespräch. Wir wünschen Ihnen sehr viel Erfolg mit Ihrem neuen Buch. ■
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Der Autor

Info

Richard Sennett wuchs in den Armenvierteln Chicagos auf. Er versuchte den sozialen Aufstieg zunächst über die Musik. In jungen Jahren lernte er Cello, komponierte und hatte Erfolge bei öffentlichen Auftritten. Das Studium der Musikwissenschaften und des Violoncello in New York musste er 1962 aufgrund einer fehlgeschlagenen Operation an seiner linken Hand aufgeben. Daraufhin studierte er in Harvard Soziologie und später Geschichte, u. a. bei Hannah Arendt. Nach der Promotion 1964 forschte und lehrte er unter anderem in Harvard, Yale, Rom und Washington. Er ist Professor am berühmten Massachusetts Institute of Technology und an der London School of Economics. Die hohe Aktualität seiner Themen und sein eingängiger, essayistischer Stil ließen seine Bücher zu Bestsellern avancieren. Seine meist beachteten Bücher sind „Der flexible Mensch“, „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ und als erster Band einer Trilogie „Handwerk“. Sennett ist einer der meistgelesenen Sozialwissenschaftler der Gegenwart.

Empfehlenswert

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Das Buch „Handwerk“ von Richard Sennett entführt uns – sehr gut lesbar – in die Welt eines klugen Mannes, der über Handwerk nachdenkt. Wer Sennetts Buch liest, um etwas über das real existierende Handwerk zu erfahren, das es überall in der Welt gibt, wird allerdings enttäuscht werden. Dies liegt sicher auch daran, dass es Handwerk, wie wir es kennen, in den USA nicht mehr in dieser Größenordnung gibt. Der Umstand, dass „The Craftsman“ ausgerechnet in Deutschland zuerst erscheint, ist bemerkenswert.
Handwerk finden wir, so Sennett, nicht nur im Handwerk. Wir finden es auch in der Wissenschaft und der Computerbranche. Gute Software ist Ergebnis von „Craftmanship“. Nichts anderes gilt für die Wissenschaft. Was macht Labors erfolgreich? Wie arbeitet der Entwicklungsingenieur? Ohne dass sie ihr Handwerk verstehen und leben, steht auch hier am Ende nur Pfusch. Technikentwicklung ohne „Craftmanship“ ist riskant. Das gilt auch für gute Politik und Verwaltung.
„Handwerk“ verteidigt ein humanistisches Menschenbild und die Würde des Menschen in der Arbeitswelt. Sennett unterstreicht, dass durch Trennung von Kopf und Hand und eine Abwertung von Arbeit und Können mehr verloren geht, als Arbeitsplätze und ein politischer Konsens. „Handwerk“ ist ohne Wenn und Aber ein sehr empfehlenswertes, genussvoll zu lesendes Buch. Es ist als eine kluge Kritik an der industriellen Arbeitswelt und New Economy zu lesen.
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