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Komfort klingt besser als barrierefrei

Jürgen Hegering geht auf die Bedürfnisse von Senioren und Menschen mit Handicaps ein
Komfort klingt besser als barrierefrei

Anfangs, im Jahr 2000, wollte Jürgen Hegering vor allem einen neuen Markt erschließen. Die Zielgruppe Senioren und Menschen mit Handicaps versprach zusätzliche Aufträge. Diese Erwartung hat sich erfüllt – dafür aber musste der Tischlermeister und Architekt noch ganz viel dazu lernen.

Dieser Anruf könnte der Beginn eines neuen, lukrativen Auftrags sein: Ein Arzt, der selbst im Rollstuhl sitzt, möchte seinen Beruf weiterhin ausüben und seine Praxis rollstuhlgerecht umgebaut bekommen. Stufen, Schwellen, Stolperkanten sind nicht das Problem, es geht um Lösungen, die die eingeschränkte Bewegungsfreiheit ausgleichen sollen. Was man denn da machen könne, möchte der Anrufer wissen.

Aufgrund seiner langjährigen Erfahrungen kann Tischlermeister Jürgen Hegering dem Arzt schon im ersten Gespräch spontan ein paar Vorschläge machen: Im Sprechzimmer wären unterfahrbare Tische möglich – am besten von beiden Seiten, so könnte sich der Arzt auch besser mit einem Patienten unterhalten, der ebenfalls im Rollstuhl sitzt. Dass die Tischplatten niedriger sein müssten oder höhenverstellbar sei selbstverständlich. Um an Akten und Fachbücher zu kommen, sei ein Paternosterschrank denkbar. Elektronisch ließen sich die einzelnen Fächer ansteuern und auf die gewünschte Höhe bringen. Auch Auszüge in Schränken oder drehbare Elemente sorgten für besseren Zugriff und Komfort, erläutert Jürgen Hegering. Aber die genauen Bedürfnisse seiner Kunden müsste er schon vor Ort in Erfahrung bringen – schließlich geht es immer um individuelle Lösungen. Das wünscht sich der anrufende Arzt auch. Er will sich die Sache durch den Kopf gehen lassen und sich wieder melden.
Ob Jürgen Hegering einen neuen Kunden gewonnen hat, weiß er nicht, aber eines ist sicher: „Ich kenne inzwischen die Bedürfnisse dieser Kundschaft recht gut. Das Wichtigste ist, dass man enorm gut zuhört und dem Kunden keine Musterlösungen überstülpt.“ Anfangs sei er völlig unbedarft an die Zielgruppe „Menschen mit Behinderungen“ herangegangen. Heute meidet er das Wort behindert und selbst das Label „barrierefrei Leben“ stellt er nicht in den Vordergrund. „Wer ein Handicap hat, möchte nicht ständig darauf aufmerksam gemacht werden; die Leute fühlen sich völlig normal.“ Deswegen spricht der Recklinghausener Tischlermeister auch lieber von Komfort, wenn es um barrierefreies Wohnen, Arbeiten und Leben geht.
Offensives Marketing
Der 59-jährige Tischler geht aktiv auf die Zielgruppe zu: Er nimmt an regionalen Messen teil, hält Kontakt zu Seniorenheimen und -residenzen, hat sich bei verschiedenen Sozialträgern und Verbänden einen Namen gemacht und scheut auch nicht vor Direktmarketing bei Multiplikatoren: „Neulich habe ich die Mitglieder des Recklinghausener Seniorenbeirates zu einer Exkursion in die Musterwohnung nach Lünen eingeladen.“ In dieser Musterwohnung zeigt die Handwerkskooperation „Barrierefrei leben“, welche Einrichtungsmöglichkeiten und technischen Lösungen es mittlerweile gibt. Bundesweit gehören der Kooperation 55 Betriebe an. Die Vernetzung findet Jürgen Hegering sehr wichtig und äußerst hilfreich: „Wir halten uns ständig auf dem Laufenden, was neue Produkte und Ideen betrifft. Ganz besonders schätzt Hegering die Tagungen, die zweimal im Jahr stattfinden. Kompetente Referenten der verschiedensten Fachgebiete sorgen dafür, dass die Tischler ihren Horizont erweitern.
Auch außerhalb der Tagungen nimmt Jürgen Hegering regelmäßig an Fort- und Weiterbildungen teil: „Das ist die Grundvoraussetzung, um in diesem Marktsegment Erfolg zu haben.“ Durch die Schulungen hat er die Zielgruppe und ihre spezifischen Probleme überhaupt erst kennen gelernt. Trainer von der Gesellschaft der Gerontotechnik haben ihm beispielsweise beigebracht, welche typischen Beeinträchtigungen ältere Menschen haben, welche Krankheiten mit welchem Verlauf besonders im Alter auftreten und wie man mit der älteren Kundschaft am besten umgeht. Wiederum andere Seminare haben ihn schlau gemacht auf dem Gebiet barrierefreie Arbeitsplatzgestaltung, entsprechende DIN-Normen, EU-Richtlinien und Landesbauordnungen. Er hat Nützliches über Finanzierungs- und Fördermöglichkeiten von Umbauten erfahren und wertvolle Tipps zum Thema Marketing bekommen. Auch seine Mitarbeiter haben an verschiedenen Schulungen teilgenommen, um die Zielgruppe besser zu verstehen.
Planungsphase aufwändiger
Jürgen Hegering sagt, dass er im Gespräch meist schnell das Vertrauen der Kunden gewinnt, weil sie merken, da kennt sich jemand aus und interessiert sich wirklich für meine Probleme. Anders als bei seinen „normalen“ Privatkunden, sei die Akquise- und Planungsphase bei Menschen mit Handicaps jedoch zeitaufwändiger. „Man muss sehr, sehr viel zuhören und dann gemeinsam Lösungen entwickeln.“ Bei den Lösungsalternativen kommt ihm mittlerweile seine langjährige Erfahrung auf dem Gebiet zugute, aber auch die Zusammenarbeit mit anderen Betrieben. Auf regionaler Ebene ist der Tischlermeister in einem gewerkeübergreifenden Netzwerk aktiv – hier arbeiten zum Beispiel auch Sanitär- oder Bauhandwerker zusammen.
Die Kundenwünsche sind vielfältig, so dass die Tischlerei Hegering ihren Slogan „Tischlerei mit Ideen“ immer wieder unter Beweis stellen muss. Der Motorradfahrer, der durch einen Unfall im Rollstuhl sitzt, hat andere Probleme als ein von Geburt contergangeschädigter Mensch; ein Kleinwüchsiger wiederum braucht andere Lösungen als ein halbseitig gelähmter Kunde. Jedes Möbelstück wird speziell für den jeweiligen Kunden und seine Raumsituation gefertigt. Manche Einrichtungsstücke und technische Ausstattungen haben sich bei vielen Kunden bewährt: vor allem sind dies höhenverstellbare und unterfahrbare Arbeits- und Tischplatten, weit öffnende Schranktüren, Zimmertüren, die nach außen aufgehen oder Paternosterschränke, in denen durch einen Elektrolift auch die oberen Fächer zugänglich werden.
Manchmal kann ein einzelner kleiner Nachttisch schon zu einem großen Auftrag führen. Einer Hospiz-Leiterin war das Musterschränkchen auf einer regionalen Ausstellung ins Auge gesprungen. Die Besonderheit: Große Schalter ermöglichen den leichten Zugriff auf die Steuerung fürs Licht, Radio, auch das Fenster ließ sich per Elektronik öffnen und schließen. Das Hospiz orderte nicht nur die Nachttische, die Tischlerei Hegering konnte das ganze Haus ausstatten – inklusive „normaler“ Möbelstücke.
Bewusstsein schaffen
Bisher sei der Markt für barrierefreie Produkte noch klein, sagt Jürgen Hegering. Aufgrund der älter werdenden Gesellschaft werde er jedoch weiter wachsen. Der Tischler und Architekt versucht schon jetzt, bei seinen Kunden und in der Öffentlichkeit das Bewusstsein für diese Problematik zu schärfen. „Wenn man eine Wohnung, ein Altenheim oder ein Privathaus neu baut oder umbaut, ist es sinnvoll, gleich die Barrierfreiheit zu berücksichtigen. Das kostet kaum mehr als die herkömmliche Ausstattung. Nachrüsten ist dagegen meist recht teuer.“ Eigentlich müssten bestimmte Dinge, wie zum Beispiel dreh- und herausziehbare Kleiderstangen oder Regalsysteme allgemeiner Standard werden. Auch höhenverstellbare Waschtische könnten generationenübergreifend genutzt werden; der Herd mit Tür sei besser zu bedienen als einer mit Klappe, Oberschranklifte würden auch „normal kleinen“ Leuten nützlich sein.
Jürgen Hegering arbeitet daran, dass bestimmte Produkte zumindest in Kleinserie gehen und über eine breitere Werbung ins allgemeine Bewusstsein rücken. So verhandelt er derzeit mit einem Küchenhersteller, der seine Ideen ins Sortiment aufnehmen möchte. Wenn es klappt, dann können sich kleine und groß gewachsene Kunden, junge und alte Käufer über zahlreiche technische Raffinessen und praktische Ausstattungen freuen: Wie zum Beispiel über Kühlschränke und Backöfen, die über leicht laufende Schubfächer verfügen und nicht nur Rollstuhlfahrern Erleichterung bringen.
Claudia Schneider

Beispielhafte Musterwohnungen

Die Kooperation „Barrierefrei leben“

Zur Handwerkskooperation „Barrierefrei leben“ gehören mittlerweile rund 55 speziell geschulte Mitglieder aus dem Ausbau- und Bauhandwerk. Sie erschließen sukzessive das Marktsegment des senioren- und behindertengerechten Planens, Bauens und Einrichtens. Im Fokus der Unternehmen aus Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Brandenburg, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Bayern stehen darüber hinaus kaufkräftige Zielgruppen, die besondere Erwartungen an Wohnkomfort und damit Lebensqualität stellen. Die Kooperation hat sich aus einer gemeinschaftlichen Marketing-Aktion von Tischlerbetrieben im Jahr 2000 gegründet.
Barrierefreie Musterwohnungen in Hannover, Lünen und Oberhausen zeigen beispielhafte Lösungen. Begleitet werden die Aktivitäten der Gruppe durch regelmäßige Weiterbildungen sowie Maßnahmen des betriebsindividuellen und gemeinschaftlichen Marketings (Mailings, Messe-, Internetauftritte etc.).
Die Mitgliedschaft setzt die Teilnahme an einer anerkannten Schulungsmaßnahme voraus. Sie beinhaltet u. a. Themen wie Marktanalyse, Zielgruppenbeschreibung, Marketing, Anpassungsmaßnahmen und deren Finanzierung, persönlicher Umgang mit der Zielgruppe, Behinderungen und ihre Verläufe, rechtliche Grundlagen, beispielhafte technische Lösungen sowie typische Problemfelder.
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Schallmessung in der Praxis: Michael Fuchs (r.) und Simon Holzer bei raumakustischen Messungen in einem Objekt (Friseursalon Max in Wallersdorf). Foto: Barbara Kohl, Kleine Fotowerkstatt
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