1 Monat GRATIS testen, danach für nur 9,90€/Monat!
Startseite » Allgemein »

Lammfrommes Wolfsrudel

Ein Tag an der Berufsschule
Lammfrommes Wolfsrudel

„Eine Klasse ist wie ein Wolfsrudel“, sagt Jürgen Fischer*, seit 10 Jahren Fachlehrer an einer Gewerblichen Schule irgendwo im Süden Deutschlands. „Man muss den Schülern ab und zu zeigen, wer der Leitwolf ist.“ Das Wolfsrudel sitzt lammfromm und schaut interessiert nach vorne, als wir den Klassenraum morgens um kurz nach acht Uhr betreten. Wölfe? Na ja.

Religion fällt aus. Der zuständige Lehrer ist auf Fortbildung. „Deshalb kommt Ihr in den Genuss von fünf Stunden Fachunterricht“, eröffnet Fischer. Die Schüler grinsen missmutig. Im zweiten Lehrjahr hat der Eifer des Anfangs schon nachgelassen, die Prüfung jedoch ist noch in weiter Ferne.

„Jochen, Sie haben diese Woche Tafeldienst.“ Während Jochen wischt, überprüft Fischer die Anwesenheit. 22 sind heute da. 26 sollten es eigentlich sein: „Schumacher ist da … Küßner sieht man auch immer seltener. Hat jemand etwas von Küßner gehört?“ Vielstimmiges Kopfschütteln. Im zweiten Lehrjahr trenne sich die Spreu vom Weizen, meint Fischer. Dafür sorgt er auch selbst, indem er jetzt ab und an Gespräche mit Schülern führt, von denen er meint, dass sie in einem anderen Ausbildungsberuf besser aufgehoben wären. „Und? Werden Ihre Ratschläge angenommen?“, will ich wissen. Fischer lächelt: „Im dritten Lehrjahr ist die gesamte Klasse dann hochmotiviert.“
Fachkunde. Eine Klassenarbeit war geschrieben worden. Der Noten-Durchschnitt liegt mit 2,5 im oberen Mittelfeld. Von 1,2 bis 4,7 ist alles dabei. Fischer ist zufrieden. Es ging um Dreh- und Schiebetüren, um Schlossarten, Klappenbeschläge, Vor- und Nachteile von CNC-Maschinen. Drei Schüler müssen nachschreiben, sie waren nicht dabei. „Hätte er auch vorher sagen können“, murrt einer, der nicht vorbereitet ist.
Noch einmal öffnet sich die Tür des Klassenzimmers: Zwei Nachzügler kommen eilens herein marschiert. Fischer blickt fragend. „Mein Auto ist nicht angesprungen.“ Nachts war es minus 12 Grad. Die Ausrede scheint glaubwürdig und Fischer nickt gnädig: „Schön, dass Sie gekommen sind“ und wendet sich mit „Beschreiben Sie die Schlossarten entsprechend der Schlüsselform am Beispiel Zylinderschloss“, an einen anderen Schüler. „Weiß nicht“, antwortet der schläfrig. „Denken Sie nach“, fordert Fischer auf. „Ich habe andere Sorgen“, tönt es zurück. Fischer stöhnt: „Das Anstrengendste am Beruf des Lehrers ist, fünf Stunden am Stück den Dompteur zu spielen. Man muss alles gleichzeitig im Blick haben und immer präsent sein.“
Zu den Vor- und Nachteilen von CNC-Maschinen befragt, weiß ein Schüler: „CNC-Maschinen sparen Mitarbeiter und damit Kosten.“ „Ist das gut?“ fragt Fischer kritisch. „Na ja, aus Sicht meines Chefs schon …“ „Gleichbleibende Qualität, mehrere Arbeitsgänge in einem …“ die Schüler arbeiten sich voran. Und die Nachteile? „Höhere Rüstzeiten, fehlender Platz … außerdem sind ältere Mitarbeiter, so ab 50 Jahre, nicht mehr in der Lage die Maschinenbedienung zu lernen.“ „Aha“, Fischer muss lachen. Er ist gerade 50 geworden. „Formulieren wir es anders“, schlägt er vor: „Man braucht eine qualifizierte Fachkraft.“ Obwohl er zugeben muss: „Mein Handy programmiert auch mein Sohn.“ Weiter geht es mit dem Maschinennullpunkt. „Wer legt ihn fest?“ Der Schüler schaut fragend. „Ich?“ „Nein“, Fischer seufzt. „Der Maschinenhersteller.“
Fünf Minuten Pause. Nescafé Xpress und Multivitamin-Drinks werden ausgepackt. Danach stehen Beizen auf dem Programm. „Die Getränke bitte weg.“ Fischer achtet auf die Zeit. „Warum beizen wir?“ will er wissen. „Jetzt können Sie wieder mit Ihren älteren Herrschaften kommen“, wendet er sich an den Schüler, der sich keine bejahrten CNC-Bediener vorstellen konnte. „Hier haben wir ein Eiche-Brett, das mit P 43 gebeizt wurde. Zugegeben: Das ist nicht mehr zeitgemäß. Ich kenne es noch aus den Zeiten, als ich noch gearbeitet habe.“ Fischer ist Seiteneinsteiger – wie alle seine Tübinger Fach-Kollegen. Der Rosenheimer Holzingenieur war jahrelang in der Möbelindustrie. „Jetzt arbeiten Sie nicht mehr?“ fragt ein Schüler keck nach und nimmt einen Schluck aus dem Tetrapack. „Mit ihrem Vitamintrunk stärken Sie sich bitte erst wieder in der Pause“, auf das Nicht-Mehr-Arbeiten geht Fischer gar nicht erst ein. Solche Sprüche kennt er. Farbstoff-Beizen, chemische Beizen … und schon naht die nächste Pause, die im Fluge vorbei geht: „Habt Ihr Eure Mathematik-Sachen schon draußen“, will Fischer im Hineinkommen wissen. „Jetzt mal keine Hektik“, bremst ihn ein Schüler gleich wieder aus. „Gaaaaanz relaxt … erzählen Sie doch erst mal einen Witz.“ „Ich kenne nur frauenfeindliche Witze“, behauptet Fischer schmunzelnd. In einer Klasse, in der der Frauenanteil mit fünf Frauen unverhältnismäßig hoch ist, entbindet ihn das augenblicklich von jeder humoristischen Pflicht.
Oberflächenmaterialbedarfsrechnung. Alle stöhnen. „So schlimm ist es nicht“, beruhigt Fischer. „Wir fangen immer auf einfachem Niveau an, um es dann ins Unermessliche zu steigern. Wie berechnet man die Ergiebigkeit?“ will er wissen. Eine Schülerin meldet sich: „Lackmenge in Liter ist gleich Lackfläche in m² geteilt durch Ergiebigkeit in m² durch Liter.“ Das kommt ein bisschen zu schnell und perfekt. „Kathrin, das haben Sie doch aus dem Buch.“ „Entschuldigung!“ Kathrin hebt die Hände. „Sie sagen doch immer, dass man nur wissen muss, wo es steht.“
Nun wird in Gruppen gearbeitet. Die Schüler stecken die Köpfe zusammen. Fischer befürwortet das gemeinsame Lernen sehr: „Manche sind sehr gut, andere tun sich viel schwerer. Gerade in Mathematik geht die Schere weit auseinander.“ Das Niveau sei in den letzten Jahren kontinuierlich gesunken, meint Fischer. Auch der Anteil an Abiturienten und Realschülern ist zurückgegangen.
„Hallo??? Hallo !!!“ Jetzt kurz vor der Mittagspause muss Fischer um die Aufmerksamkeit seiner Schüler ringen. Zwei Stunden Fachrechnen sind ganz schön anstrengend. „Habt Ihr keine Lust mehr?“ „Doch, wir sind voller Elan“, klingt es müde und vielleicht ein bisschen resigniert. „Wollen Sie noch eine Aufgabe rechnen? Nein? Ich habe keine andere Antwort von Ihnen erwartet. Dann machen wir jetzt Mittagspause.“
„Warte nur balde …“
Als ich am Nachmittag in die Klasse komme, reibe ich mir die Augen: Saßen die Schüler am Vormittag noch locker verteilt im Klassenraum, sitzen sie jetzt dicht an dicht in den ersten vier Reihen. Dafür hat Gerhard Reuss gesorgt. Er will, dass die Schüler wirklich anwesend sind und nicht in den letzten Reihen vor sich hin dämmern. „Ich eruiere gerade, wann welcher Schüler in welchem Unterricht war“, erklärt Reuss mir. Er ist Klassenlehrer und muss dafür sorgen, dass die Klassenbuch-Eintragungen vollständig sind. „Was heißt ,eruieren´?“ will ein Schüler wissen. „Da sieht man wieder, um was für eine aufgeweckte Klasse es sich hier handelt“, lobt Reuss: „Kaum fällt ein Fremdwort, gleich wird nachgefragt.“ „Sonst sagen Sie immer, wir seien Dumpfbacken“, wirft ein Schüler grinsend ein. „Ja, genau“, sagt Reuss. „Alles Analphabeten.“ Er darf sich solch kleine Frechheiten erlauben, erlaubt im Gegenzug aber auch seinen Schülern die eine oder andere vorlaute Bemerkung. Ich spüre: Die Klasse mag ihn. Reuss ist Lehrer aus Überzeugung: „Ich begegne meinen Schülern mit Liebe, Vertrauen aber auch mit Konsequenz. Die Schüler wollen Verantwortung übernehmen. Häufig fehlt in ihrem Leben Struktur.“
Deutsch. Gedichte. Wanderers Nachtlied. Von Johann Wolfgang von Goethe. „Mich hat einmal ein Schreinermeister angerufen und gefragt, warum Schreiner Gedichte lernen müssten. Ich habe zurück gefragt, ob er Schreiner für zu dumm hielte, als dass sie Gedichte lernen könnten? Da hat er nichts mehr gesagt.“ Reuss will, dass der freie Vortrag geübt wird. Ein Schüler geht nach vorne: „Über allen Gipfeln ist Ruh. In allen Wipfeln spürest du kaum einen Hauch. Die Vögelein schweigen im Walde. Warte nur, balde ruhest du auch.“ Etwas lieblos wird es heruntergerattert. Der Schüler ist sichtlich froh, als er am Ende angekommen ist. Für den Vortrag gibt es mündliche Noten, pro Fehler eine halbe Note Abzug. Reuss: „Bei mir gibt es klare Regeln. Die Schüler gieren nach Regeln.“
Gemeinschaftskunde. Reuss verteilt eine Broschüre der Bundeszentrale für politische Bildung: „Grundgesetz für Einsteiger und Fortgeschrittene“. Die Schüler arbeiten in Dreier- oder Vierergruppen. Eine Prioritätenliste soll erstellt werden: Von 18 Forderungen an eine freie Gesellschaft, muss sich die Gruppe auf diejenigen einigen, die ihnen am wichtigsten sind. „Jeder muss seine Meinung frei äußern dürfen.“ Das erscheint allen bedeutsam. Auch den Satz „Die Privatsphäre muss absolut geschützt werden“ ordnen sie ganz vorne ein.
In Wirtschaftskunde geht es nach einem Test weiter mit Tarifpolitik: „Wie viele Tage Mindesturlaub … ?“ „20“ ruft ein Schüler dazwischen. „Müller!!“, blafft Reuss seinen Schüler an. „Ich würde mich freuen, wenn ich die Frage zu Ende führen könnte, bevor Sie antworten. Also: Wie viele Tage Mindesturlaub sind gesetzlich vorgeschrieben?“ Wenn mehrere den Finger strecken und einer dazwischen brüllt, bekommt er einen Strich. Bei drei Strichen darf er einen Aufsatz schreiben. Manch einer schafft das in zwei Stunden. Aber Reuss kennt keine Gnade. Jetzt diktiert er: „… in einem Schlichtungsverfahren … rot.“ Es geht um Streik. Reuss diktiert die Schriftfarbe gleich mit. „Wenn man Worte farbig schreibt, merkt man sich 20 Prozent mehr.“ „Auch Bilder merkt man sich leichter“, weiß ein Schüler. „Nur schlimme Bilder“, meint Reuss. „Ja, zum Beispiel Ihre Tafelbilder.“ Reuss muss lachen. Er weiß, dass er eine fürchterliche Schrift hat. „Wir pflegen hier eine heitere Atmosphäre.“ Wohlwollend blickt er über seine Schäfchen: „Die müssen ja schließlich gerne zur Schule gehen, auch wenn’s schwer fällt.“
Regina Adamczak
* Namen geändert
Tags
Herstellerinformation
BM-Gewinnspiel
Herstellerinformation
BM-Titelstars
Herstellerinformation
Im Fokus: Vernetzte Werkstatt

Herstellerinformation
Im Fokus: Vakuumtechnik
Herstellerinformation
BM auf Social Media
BM-Themenseite: Innentüren
Im Fokus: Raumakustik
_6006813.jpg
Schallmessung in der Praxis: Michael Fuchs (r.) und Simon Holzer bei raumakustischen Messungen in einem Objekt (Friseursalon Max in Wallersdorf). Foto: Barbara Kohl, Kleine Fotowerkstatt
Im Fokus: Gestaltung
Alles bio? Nachhaltigkeit im Tischler- und Schreinerhandwerk

BM Bestellservice
Vielen Dank für Ihre Bestellung!
Sie erhalten in Kürze eine Bestätigung per E-Mail.
Von Ihnen ausgesucht:
Weitere Informationen gewünscht?
Einfach neue Dokumente auswählen
und zuletzt Adresse eingeben.
Wie funktioniert der BM Bestellservice?
Zur Hilfeseite »
Ihre Adresse:














Die Konradin-Verlag Robert Kohlhammer GmbH erhebt, verarbeitet und nutzt die Daten, die der Nutzer bei der Registrierung zum BM Bestellservice freiwillig zur Verfügung stellt, zum Zwecke der Erfüllung dieses Nutzungsverhältnisses. Der Nutzer erhält damit Zugang zu den Dokumenten des BM Bestellservice.
AGB
datenschutz-online@konradin.de