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Deutschland ist ihr Wohnzimmer

Annelie ist als freireisende Tischlerin auf Wanderschaft
Deutschland ist ihr Wohnzimmer

Ob sie nachts ein Dach über dem Kopf hat oder im Freien schlafen muss, weiß Annelie oftmals nicht. Seit anderthalb Jahren ist die 26-Jährige auf Wanderschaft. In wie vielen Betrieben sie bereits gearbeitet hat, wurde noch nicht gezählt. Aber auf der Deutschlandkarte ist bisher nur der Raum München ein weißer Fleck. Und natürlich ihre Bannmeile: die 50 Kilometer rund um Hamburg.

Die Tippelei war von langer Hand geplant und gründlich überlegt. Persönliche Kontakte zu jungen Wandergesellen brachten Annelie bereits im ersten Ausbildungsjahr auf die Idee, nach ihrer Freisprechung für drei Jahre und einen Tag quer durch Deutschland, möglichst auch durch Europa und andere Kontinente zu ziehen.

Dass sie kein Geld für Fortbewegung und Unterkunft ausgeben darf, schreckte sie nicht ab. „Getrampt bin ich schon als Jugendliche“, erzählt Annelie Sawitzki, die in Bargenstedt im Kreis Dithmarschen in Schleswig-Holstein aufgewachsen ist. Rund 900 Einwohner zählt die Gemeinde. Nach dem Abitur begeht Annelie erstmal „Landflucht“ und zieht nach Hamburg.
Dort sammelt sie wertvolle Erfahrungen während des Freiwilligen Sozialen Jahres in einer Behinderteneinrichtung. Ein Beruf fürs Leben sei das aber nicht, findet sie für sich heraus. Der ursprüngliche Plan, Pädagogik zu studieren, wird auch verworfen. Stattdessen nimmt sie sich ihren Vater zum Vorbild: Er ist gelernter Tischler. „Ein Handwerk ist eine gute Basis. Da kann man überall auf der Welt etwas mit anfangen“, sagt Annelie aus voller Überzeugung. Dank ihrer soliden Ausbildung in der kleinen Möbeltischlerei von Ivo von Schnakenburg traut sich die junge Gesellin auch beruflich einiges zu. „Schon während der Ausbildung konnte ich selbstständig arbeiten, wurde gefördert und gefordert.“
Eine „Altgesellin“ begleitet Annelie anfangs
Um handwerklich noch ganz viel dazuzulernen, aber auch um Land und Leute kennenzulernen, beginnt Annelie am 5. Oktober 2009 ihre Wanderschaft. Eine „Altgesellin“, also eine Tischlerin, die bereits seit zwei Jahren tippelt, begleitet Annelie die ersten zwei Monate. Die ersten 50 Kilometer aus der Bannmeile müssen zu Fuß zurückgelegt werden. Drei Jahre lang darf man die Bannmeilen nicht betreten. Von der Altgesellin lernt die junge „Fremde“ – so heißen die Gesellen auf Wanderschaft – ganz praktische Dinge: z. B. welche Ausrüstung man braucht, wie man das gesamte Hab und Gut im „Charly“ Platz sparend verstaut oder wie man Betriebe kontaktiert. Bereits im Vorfeld wurde die Krankenversicherung geregelt, ein Wanderbuch und die Kluft angeschafft. Das Wanderbuch ist kein Tagebuch oder gar ein Wanderführer. In dem extra von einer Buchbinderin angefertigten, ledergebundenen Büchlein werden die Städtesiegel gesammelt. Alle Orte, in denen Annelie arbeitet oder die sie besichtigt, werden besiegelt. „Ich schreibe nichts in das Buch hinein“, stellt Annelie klar, „sondern meine Chefs notieren hier kurze Arbeitszeugnisse. Auch Gastgeber oder andere Wandergesellen, die man bei verschiedensten Treffen oder während gemeinsamer Tippelei trifft, können sich hierin verewigen, wenn Annelie es möchte. Sie geht nämlich sparsam mit dem Platz um. Schließlich ist erst Halbzeit der Wanderschaft und das Buch soll bis zum Ende reichen.
An die neugierigen Blicke, wenn sie in ihrer schwarzen Kluft durch Städte oder gar Dörfer läuft, hat sich die junge Fremde längst gewöhnt. „Ich achte da gar nicht mehr drauf. Ich finde es nur blöd, dass einige Leute mich einfach ungefragt fotografieren.“ Besonders auffällig an der Kluft ist der Hut, den die Fremden Deckel nennen. Anfangs hatte Annelie einen kleineren Schlapphut, mittlerweile trägt sie selbstbewusst einen Zylinder. Komplett besteht die Kluft aus einer schwarzen Schlaghose, einer Jacke mit sechs Knöpfen, einer Weste mit acht Perlmuttknöpfen und einem weißen Hemd (Staude genannt). Das Tischlerwappen ziert Annelies Gürtelschnalle. Der Wanderstock (Stenz) und das Gepäckbündel (Charly oder Charlottenburger) sind auf jeder Reise dabei. Die Kluft tragen die Wandergesellen im Sommer wie im Winter, und der Hut bleibt auch bei der Arbeit auf. Wenigstens die Jacke dürfen sie ausziehen. „Bei sommerlichen Temperaturen ist die Kluft unglaublich heiß“, gibt Annelie zu, das sei eine der wenigen Dinge die auf Wanderschaft nerve.
E-Mails sind erlaubt, Postkarten bevorzugt
Dass man als Wandergesellin kein Handy besitzen darf, ist kein Problem: „Ich hatte vorher schon keines. Ich will auch nicht ständig erreichbar sein.“ Für Freunde und Familie ist sie trotzdem nicht aus der Welt: E-Mails sind erlaubt, aber Annelie bevorzugt Postkarten und Briefe. „Das ist viel persönlicher.“ Und kommt gut an. Die Eltern, die anfangs sehr beunruhigt waren, machen sich auch keine Sorgen mehr. „Ich bin bisher niemandem bösartigem begegnet. Weder beim Trampen noch bei der Unterkunftssuche und schon gar nicht im Job. Die anderthalb Jahre auf der Straße hätten auch ihre Menschenkenntnis geschult.
Manche Betriebe nehmen gerne Wandergesellen
In den Betrieben stellt sich Annelie immer persönlich vor. Nie ruft sie vorher an. Allerdings tauschen sich die Wandergesellen aus und es gibt Empfehlungen, in welchen Betrieben Fremde willkommen sind. Doch auch dort hat man nicht immer Glück, schließlich muss auch Arbeit vorhanden sein. Die Wandergesellen arbeiten für ganz normalen Tariflohn. Nur auf der „Sommerbaustelle“ treffen sich Fremde und auch Einheimische (das sind ehemalige Reisende oder ganz normale Gesellen) der verschiedensten Gewerke und arbeiten vier Wochen ehrenamtlich. „Das ist eine großartige Sache. Im letzten Jahr haben wir eine Scheune gebaut für einen Verein, der Erlebnispädagogik betreibt.“ Auf dieser Baustelle hat Annelie mal ins Zimmerhandwerk hineinschnuppern können, dort hat sie z. B. gelernt, wie man Fachwerk abbindet. In diesem Jahr fand die Sommerbaustelle, vom 25. Juli bis 21. August, an der Woltersburger Mühle bei Uelzen statt – Annelie hat sie mit organisiert.
Ihren beruflichen Horizont hat die 26-Jährige in den letzten anderthalb Jahren stark erweitert. Die gelernte Möbeltischlerin hat in den unterschiedlichsten Betrieben regionale Besonderheiten kennengelernt und handwerkliches Know-how gesammelt. Beispielsweise hat sie am Niederrhein im Yachthafen von Emmerich zusammen mit einem Bootsbauer und einem Tischler (beide auch auf Wanderschaft) eine Motoryacht mit Holzrumpf und -deck restauriert. Spannend waren auch die Arbeiten in dem achteckigen Strohballenlehmhaus in der Pfalz; hier hat Annelie mitgeholfen den Fußboden zu verlegen. Im schwäbischen Ichenhausen hat Annelie das erste Mal Zimmertüren aus Lärche gefertigt und auf der letzten Sommerbaustelle hat sie auch an einer Treppe mitgebaut.
Das Wort „Walz“ wird nicht mehr benutzt
In der Öffentlichkeit ist meist nur bekannt, dass Zimmerleute auf Wanderschaft gehen“ – das Wort „Walz“ benutzen die heutigen Wandergesellen übrigens nicht mehr. Tatsächlich sind auch Gesellen anderer Handwerksberufe wie zum Beispiel Maurer, Bootsbauer, Gärtner, Töpfer, Steinmetze, Holzbildhauer, Buchbinder, Schneider, Goldschmiede, Instrumentenbauer und viele mehr auf der Wanderschaft. Rund 400 bis 500 Wandergesellen sind schätzungsweise derzeit unterwegs, davon sind zehn bis 15 Prozent Frauen. Exakte Zahlen liegen nicht vor, da die Fremden nicht immer in „Schächten“ organisiert sind. Diese Vereine führen die Tradition der Zünfte fort; zwei Schächte nehmen auch Frauen auf. Annelie hat sich aber für die Wanderschaft als Freireisende entschieden, das befreit von der Pflicht, an bestimmten Treffen teilzunehmen. Aber freiwillig ist Annelie gerne bei den verschiedensten Gesellentreffen dabei.
Das Verhältnis unter den Gesellen ist generell völlig entspannt, sagt Annelie. Auch als Frau werde sie ernst genommen. Während der Ausbildung hätte sie auf Baustellen den einen oder anderen dummen Spruch zu hören bekommen, aber meist seien die Kollegen nett und hilfsbereit gewesen. Auf Wanderschaft ist Annelie häufig in gemischtgeschlechtlichen Gruppen unterwegs, aber ganz oft reist sie auch alleine. Dann ist es beim Trampen auch einfacher eine Mitfahrgelegenheit zu bekommen. Aber Annelie hat während der Tippelei auch gelernt zu warten und sich zurückzuziehen. „Man braucht Zeit zum Verarbeiten. Das heißt, man muss sich auch mal trauen zu sagen, dass man seine Ruhe braucht.“ Gerade wenn man den ganzen Tag trampt bekomme man die unterschiedlichsten Geschichten zu hören, das sei zwar sehr interessant, aber auch anstrengend.
Das Sternehotel war die große Ausnahme
Die Wochen, an denen Annelie am Stück in den Betrieben arbeitet, seien dagegen meist viel entspannter. Der Tagesablauf ist geregelt und abends weiß Annelie, wo sie ihre Schuhe ausziehen kann. Die unterschiedlichsten Schlafplätze hat sie schon kennengelernt: Ob auf dem Sofa beim Hartz IV-Empfänger, auf dem Dachboden der Großfamilie, in einer Scheune oder sogar im Sternehotel. Beim Trampen war sie zufällig dem Hotelchef begegnet. Sehr viele interessante Menschen hat sie schon getroffen und auch neue Freunde gefunden.
In den nächsten anderthalb Jahren würde die Wandergesellin gerne noch in einem Großbetrieb in Dresden arbeiten, der Massivholzmöbel in Serie baut und auch Maßfertigungen anbietet. Ein Treppenbaukurs in Rumänien ist geplant, und dann will sie unbedingt noch per Schiff nach Kanada. Wie es nach der Tippelei konkret weitergeht, darüber zerbricht sich Annelie noch nicht den Kopf. „Ich kann mir den Besuch der Meisterschule vorstellen; vielleicht gehe ich auch ins Ausland. Aber die Sparte Möbel- und Innenausbau ist schon das Richtige für mich.“ Spontanes Handeln und Chancen ergreifen hat sie auf der Straße gelernt – gute Voraussetzungen für die Zukunft. (Claudia Schneider) ■
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